Tagebuch Pik Lenin 2000

Teil 3

13.8.00 Lager 1

Nachts um 300 Uhr ist der Himmel immer noch stark bewölkt. Am Morgen kommt die Sonne zwar raus, muß sich aber durch eine Wolkenschicht quälen, deren Untergrenze unterhalb von 5000 m liegt. Es schneit zeitweise, aber so richtig schlecht will das Wetter (noch) nicht werden. Wir verabschieden Sven, der ins Lager 2 aufsteigt. Trotz der Wolken - die Gegend um das Lager 2 ist nur zeitweise sichtbar - bewegt sich ein Lindwurm nach oben, und Sven hat gut Chancen, sich an eine Seilschaft anzuschließen. Von unten kommt Magnus noch mal hoch, und wir trinken gemeinsam Kaffee. Nach dem Austausch von Telefonnummern und Email-Adressen steigt er ins Basislager ab, wobei er freundlicherweise einigen Müll von uns mitnimmt.

Mittags schafft es der Schnee dann doch, das Geröll zu befeuchten, und es fängt an, andauernd zu schneien. Unser Käseomelett aus der Tüte - es ist Sonntag - können wir aber noch im Freien genießen. Gegen 1700 Uhr schaut die Sonne wieder durch die Wolken. Nach einigen schauerartigen Rückschlägen hört es dann mit den Niederschlägen auf. Es ist aber weiterhin stark bewölkt, und der Pik Lenin hängt in den Wolken. Holger und Gunther ruhen sich offenbar immer noch im Basislager aus.

14.8.00 Lager 1 - Lager 2

Das Wetter ist wieder besser, und so entscheiden wir uns, zum Gipfelversuch aufzusteigen. Da Robert auf Skiern geht, muß ich wieder trampen. Ich spreche zwei Russen an (Wolodja und Shenja), als sie am Lager vorbeigehen. Sie wollen auf uns warten, und wir holen sie dann an der Krawatte ein. Wolodja schleppt eine ziemlich schwere Videokamera mit sich rum. Die Fixseilpassage gehen wir noch solo, dann wird angeseilt. Ein Stück geht auch Robert mit am Seil. Das Tempo ist gut, und wir kommen zügig voran. Oben ist zwar etwas Schnee liegengeblieben, aber nicht viel. Insgesamt ist die Spur wesentlich besser begehbar als beim ersten Mal. Das Wetter beim Aufstieg ist zwar nicht schlecht, aber ein paar Schneeflocken und tiefhängende Wolken lassen die Pausen nicht allzu lang werden. Unterwegs treffen wir Peter und (unseren) Wolodja. Peter war nicht auf dem Gipfel, aber im Lager 3 und wohl auf dem Pik Rasdelnaja.

Nach 5:40 h bin ich diesmal im Lager 2. Robert ist noch 10 Minuten schneller. Unser Zelt steht noch von unserem ersten Aufstieg; die Russen bauen ihr Tunnelzelt ein Stück weiter oben auf dem Geröllsporn auf. Für russische Verhältnisse scheinen sie gut ausgerüstet zu sein. Es besteht schon ein ziemlicher Kontrast zwischen den teuer und bunt ausgerüsteten Bergsteigern aus dem Westen (also uns) und den GUS-Alpinisten mit ihrer z.T. selbstgebastelten Ausrüstung (z.B. selbstgenähte Zelte).

15.8.00 Lager 2 - Lager 3

Robert hat in der Nacht mitbekommen, wie begleitet von einem Rumpeln der Boden erzitterte. Morgens sehen wir, daß am zur Pik-Lenin-Nordflanke gehörenden Gegenhang ein Serak abgebrochen war, dessen Eistrümmer sich fast über die gesamte Senke der "Bratpfanne" verteilt haben. 1990 hatte hier vermutlich ein Erdbeben einen größeren Eissturz ausgelöst, der das Lager 2 verschüttete. Die meisten der damals über 40 Toten liegen immer noch dort. Jetzt wird das Lager 2 etwas erhöht und so weit wie möglich von der Nordwand entfernt aufgebaut, so daß wir nicht in Gefahr waren.

Da das Wetter gut aussieht, steigen wir weiter ins Lager 3. Nach dem Frühstück geht es so gegen 930 Uhr los. Robert schleppt diesmal seine Skier auf den Gratrücken hinter dem Lager 2 und ist so schneller. Am Rasdelnaja-Anstieg deponiert er dann doch die Skier. Oben am Gipfel kommen wir in den Westwind, nachdem wir auf der Leeseite hochgestiegen waren. Vom Pik Rasdelnaja zum Lager 3 müssen wir noch etwa 50 m absteigen. Dort suchen wir mein Zelt, das Wolodja und Magnus hier aufgebaut haben. Wir finden es ein Stück vor der tiefsten Paßeinsenkung an der Westseite des Sattels (=Wetterseite). Auf der anderen Seite, wo wir vor drei Jahren unsere Schneehöhlen hatten, ist es durch starke Wächtenbildung gefährlich. Das Zelt steht noch ziemlich stabil, da alle Anker zuverlässig eingefroren sind. Nur einen Teil der weggeschmolzenen Schneemauer müssen wir erneuern. Robert gräbt vor dem Zelteingang noch eine Kuhle zu Kochen. Mein MSR-Wisperlite-Kocher läßt sich aber in Wind und Kälte nur mit viel Mühe zur Arbeit überreden. Nach dem Abendbrot mit Teetrinken verziehen wir uns in die Schlafsäcke, da wir morgen früh aufstehen wollen. Etwas sauberer Schnee zum Schmelzen liegt in Reichweite.

Kurz nach dem Schlafengehen frischt der Wind auf und läßt das trotzdem noch recht geschützt liegende Zelt kräftig flattern. Robert hat Ohropax.

In der Nacht kommt noch jemand zum Zelt und sucht das Lager der Esten. Wir können ihm auch nicht weiterhelfen, außer ihn zu der größeren Ansammlung von Zelten in Richtung Pik Rasdelnaja zu schicken. Da er nicht zurückkommt, wird er wohl einen Schlafplatz gefunden haben. Unklar bleibt allerdings, ob er von unten oder vom Gipfel gekommen ist.

16.8.00 Lager 3 - Gipfelversuch

Um 400 Uhr "klingelt" der Wecker, und wir werfen den Kocher an. Der Wind hat zum Glück etwas nachgelassen. Während der Kocher arbeitet, ist draußen schon mächtig Betrieb. Eine größere Gruppe Franzosen macht sich auf den Weg zum Gipfel. Bei uns dauert es bis 630 Uhr, bevor wir startklar sind. Der Himmel ist klar, aber der Wind immer noch ziemlich stark. Da ich Socken und Innenschuhe im Schlafsack hatte, sind die Füße anfangs schön warm. Allerdings habe ich kalte Finger. Robert leiht mir seine Ersatz-Überhandschuhe. Jetzt werden die Finger wieder warm, dafür beginnen die Zehen kalt zu werden. In der Folge setzt sich dieses Spiel fort, und ich habe abwechselnd Angst, mir die Finger oder die Zehen zu erfrieren.

Den Aufstieg zur Schulter auf etwa 6400 m (Lager 4, aber wenig genutzt) haben wir nach 1:50 h hinter uns, was nicht besonders schnell ist. Ich fühle mich aber wesentlich besser als vor drei Jahren. Wir machen noch eine Pause, aber der Wind läßt sie nicht besonders lang ausfallen. Dann geht es weiter über schwach ansteigende Hochflächen zu einem Steilaufschwung. Hier hängt wieder ein Fixseil runter, was uns aber wenig nützt, da wir Gurt und Pickel unten gelassen hatten. Das Fixseil läuft auch nur über den unteren Teil des Steilstückes. Es folgt felsiges Gelände und eine etwas ausgesetzte Querung über Firnhänge. Jetzt sind über einem offenen Firnplateau die Felsen des sehr ausgedehnten Gipfelaufbaus sichtbar. Ich werde immer langsamer - den Gipfel nicht mehr weit wähnend. Aber auf jeden Hügel in den Gipfelfelsen folgt ein neuer. Robert fragt vom Gipfel zurückkommende Franzosen und bekommt die Antwort, daß es noch zwei Stunden bis zum Hauptgipfel sind. Nach meinem Höhenmesser haben wir 7010 m erreicht. Bis zum Gipfel wären es also noch 124 Höhenmeter. Da es schon 1400 Uhr ist und ich ziemlich kaputt bin, entschließe ich mich zur Umkehr. Robert kommt mit, da er etwas entsetzt ist, wie ich den Berg heruntertorkle. Die Quellbewölkung und der Wind nehmen auch wieder zu. Nur auf den Frontalzacken der Steigeisen stehend steige ich, von Robert gelotst, das steile Gratstück herunter. Robert bereitet mir die Stufen schon vor, allerdings kann ich sie durch den spitzen Winkel kaum sehen. Es läuft aber ganz gut. Auf der Schulter vom Lager 4 machen wir noch mal Pause. Ein paar Leute (Russen?) bauen dort auf der dem Wind ausgesetzten Hochfläche gerade ein Zelt hinter einem Felsblock auf.

Auf den letzten 350 Höhenmetern runter zum Lager geht Robert sein Tempo und ist schnell verschwunden. Ich komme gegen 1700 Uhr wieder unten an, wo inzwischen ein zweites Zelt neben unserem steht - Holger und Gunther sind gekommen. Wir haben uns in den letzten 10 Tagen nur einmal kurz gesehen (Gunther, am 10.8.). Ich ruhe mich im Zelt aus und versuche, mein Flüssigkeitsdefizit auszugleichen. Abends macht der Kocher wieder Schwierigkeiten, aber schließlich gelingt das Abendbrot doch. Es beginnt mit den Resten vom Frühstück, die wir morgens nicht mehr geschafft hatten. Am späten Abend frischt der Wind wieder auf und schüttelt das Zelt kräftig durch.

17.8.00 Lager 3 - Lager 1

Frühmorgens ist der Wind immer noch stark. Gegen 400 Uhr sind aus dem Nachbarzelt kurzzeitig Stimmen zu hören, aber kein Kocher. Später wird es offensichtlich, daß Gunther und Holger heute keinen Gipfelversuch unternehmen werden. Der starke Wind treibt immer wieder Wolken übers Lager. Außerdem geht es unseren Freunden nicht gut (Magenverstimmung?). Robert und ich frühstücken und packen unsere Sachen zusammen. Holger und Gunther wollen noch einen Tag für ihren Gipfelversuch warten. Nach dem Zeltabbau ziehen wir los. Die 50 Höhenmeter Anstieg zum Pik Rasdelnaja sind mit dem vollen Rucksack ziemlich beschwerlich. Ich schaffe es aber, ohne daß mich der Sturm umwirft. Runterzu geht es dann einfacher. Bis zum Lager 2 kann man seilfrei gehen, dann muß ich wieder "trampen". Mit dem Summit-Club geht es nicht, aber die Franzosen, die gestern auf dem Gipfel waren, sehen das wieder unproblematischer. Auf dem Abstieg schlagen sie ein wohltuend langsames Tempo an. Außerdem fühle ich mich in der etwas dickeren Luft auch wieder besser. Warum die Franzosen mitten in den Trümmern des Eisschlages von vor drei Tagen mehrere Pausen machen, bleibt aber ein Rätsel. Weiter unten springen wir an einer schmalen Stelle über die Spalte, die vorher mit einer Leiter überbrückt wurde. Letztere war aber reingefallen und hing nur noch am Sicherungsseil.

An der "Krawatte" beginnt wieder ein umständliches Abseilmanöver. Ich seile mich, noch eingebunden in das Mannschaftsseil, als erster ab und klinke mich beim Wechsel in das zweite Fixseil (länger und mit Knoten) auch aus dem gemeinsamen Seil aus. Das war wohl so nicht gemeint, also binde ich mich halt wieder ein. Danach gehen wir mit mir als Seilschaftserstem das letzte, aber durchaus noch spaltenhaltige Stück der Nordflanke herunter. Beim Ausbinden unterhalte ich mich noch kurz mit dem russischen Bergführer unserer Seilschaft, der sich über meine Russischkenntnisse freut. Er meint auch, daß der Gipfel nicht so wichtig wäre.

Gegen 1530 Uhr bin ich wieder im Lager 1 auf der Moräne am Lenin-Gletscher. Dort sind inzwischen zwei Polen eingetroffen. Etwa eineinhalb Stunden nach meiner Ankunft im Lager wird das Wetter schlechter, und es beginnt nach Graupelschauern ausgiebig zu schneien. In Roberts Zelt essen wir Abendbrot und gehen dann schlafen, wobei es weiterschneit.

18.8.00 Lager 1 - Basislager

Morgens haben sich die Schneewolken verzogen, und in der Sonne präsentiert sich eine Winterlandschaft. Auf Höhe von Lager 1 liegen etwa 15 cm Schnee. Ich fotografiere ausgiebig und schaufle das Zelt frei, damit es schneller trocknet. Nach dem Frühstück - der Kocher funktioniert wieder besser - unterhalten wir uns mit den Polen. Später spielt Robert mit ihnen Karten während ich mein Tagebuch aktualisiere. Ich habe eine leichte Magenverstimmung, die um so schlimmer wird, je mehr ich gegessen habe.

Wir machen uns etwas Sorgen um Holger und Gunther im Lager 3, die heute ihren Gipfelversuch machen müßten. Ansonsten hält vor allem Robert nichts mehr im Lager 1. Wir essen Mittag (Pasta mit Pilzen und Tomatensoße aus der Tüte) und packen dann langsam unsere Sachen zusammen. Der Versuch, den anderen Lagerbewohnern überschüssige Lebensmittel und Benzin anzudrehen, ist wenig erfolgreich. Für die beiden am Berg lassen wir noch ein Zelt (Gunthers) stehen und ziehen gegen 1600 Uhr in Richtung Basislager. Auf dem Lenin-Gletscher bewölkt es sich, und es schneit leicht. Durch den Neuschnee der letzten Nacht gibt es eine Menge Matsch und eine nicht zu verfehlende Spur. Robert schnallt noch mal seine Skier an, macht damit aber kein Plus an Geschwindigkeit und Kraftersparnis. Beim Aufstieg zum Paß der Reisenden ist er dann aber nicht zu bremsen. Die Südseite des Passes ist nach dem Schnee recht gut abgetrocknet. Beim Abstieg auf der anderen Seite liegt dagegen teilweise noch Schnee, und die Hangquerungen nach dem Paßabstieg sind schlammig. Robert ist inzwischen kaum noch zu sehen.

Der Weg von der Zwiebelwiese zum Lager ist wieder endlos, zumal der Rucksack immer stärker auf die Schultern drückt. Auf der Zwiebelwiese liegen noch ein paar Schneereste, und auch weiter hat es geschneit, sagt Marat später. Als ich mich 2000 Uhr dem Lager nähere sehe ich Marats Niva stehen. Also ist er auch selbst wieder da, nachdem er die Schweden auf den Nachhauseweg gebracht hat. Er begrüßt mich mit einer Büchse Bier. Robert, der eine Viertelstunde eher da war, und Wolodja haben auch jeder eine. Erst mal wird angestoßen, dann Abendbrot gegessen. Mein empfindlicher Magen muß außerdem noch den Wodka verkraften, mit dem auf unsere Rückkehr und auf die von Gunther und Holger trinken. Vor dem Schlafengehen bewundern wir noch den Sternenhimmel, denn es hat aufgeklart.

19.8.00 Basislager - Osch

Marat hatte uns schon gestern seinen Plan für die Rückreise erklärt. Da nicht alle auf einmal in den Niva passen, will er heute schon möglichst viele Leute nach Osch bringen. Robert will aber noch auf Holger warten. Tanja erklärt sich bereit, ihn und die anderen zu bekochen. Also fährt Marat mit Wolodja und mir um 1000 Uhr los. Es geht auf der bekannten Strecke über den Taldyk-Paß und Gültscha nach Osch. Kurz vor dem Militärkontrollposten von Sary-Tasch kontrollieren uns noch irgendwelche nicht mehr nüchterne Milizionäre mit MPis. Später kommt uns noch ein Schützenpanzer entgegen. Eine gewisse Nervosität scheint in der Luft zu liegen.

Das Wetter ist diesmal gut. Erstaunlich sind die verschiedene Möglichkeiten der Nutzung der Straße (außer zum Befahren): Spielplatz, Treffpunkt, Tenne, zum Nüsseknacken u.a.. Wie auch der Pamir, ist auch das Alaigebirge, das wir durchqueren, vom Gestein her ziemlich farbig. In einer Teestube gibt es Lagman (Nudelsuppe) zum Mittag.

Um 1730 Uhr kommen wir in Osch an. Marat quartiert Wolodja und mich im Hotel "Alai" ein, von wo aus es nur 5 Minuten zum Basar sind. Natürlich ist es auch nicht so teuer wie bei Witali, weshalb ich erst übermorgen dorthin fahren soll. Das Zimmer ist zwar wieder ziemlich heruntergekommen - bei uns funktioniert nur das Licht im Bad - aber offenbar gibt es keine Kakerlaken. Nachdem wir das Zimmer bezogen haben, gehen wir gegenüber dem Hotel Plof und Schaschlyk essen, was meinen Magen an die (derzeitige) Belastungsgrenze treibt. Dann suchen wir für Wolodja eine Mitfahrgelegenheit nach Bischkek, von wo aus er mit dem Bus weiter nach Almaty fährt. Mir ist nach dem üppigen Abendbrot schlecht, und so schleiche ich hinterher. Mit dem Fahrer eines grünen Wolga wird man sich schließlich handelseinig.

Zurück im Hotel erholt sich mein Magen. Als es dunkel wird und wir das Licht anmachen wollen, fällt der Lichtschalter im Zimmer einfach aus der Wand. Wolodja biegt die Drähte zusammen, und es ward Licht. Marat rüstet mich noch finanziell aus, damit ich das Hotel bezahlen und mich verpflegen kann. Er wird morgen zum Pik Lenin zurückfahren.


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